Der eigene Blick

Von unübersehbaren Gegensätzen in formaler wie inhaltlicher Hinsicht sind auch die neuen
Bilder von Astrid Eggert geprägt. Zwei der hier gezeigten, großformatigen Gemälde etwa werden
beherrscht von einem geradezu penetranten banalen Raster, das sein Vorbild -
Stickmustervorlagen - unverhohlen zur Schau trägt. Mit akribischer Geduld hat die Künstlerin
jedes quadratische Kästchen farblich ausgefüllt und ein ornamentales Muster entstehen lassen,
aus dem sich unter anderem florale Formen herauskristallisieren, Rosenblüten, die allerdings auf
Grund der eigenartigen Farbwahl und ihrer - der Mustervorlage nicht korrekt entsprechenden -
Verteilung auf der Bildfläche so verfremdet sind, dass man sie kaum mehr erkennen kann.
Erkennbar bleibt vor allem das Prinzip einer Formschöpfung aus dem Nebeneinandersetzen
unterschiedlicher Farbwerte in Form gleichgroßer Farbquadrate oder Farbpunkte, ein Prinzip des
Bildaufbaus, das ja nicht nur für die Bildstickerei Gültigkeit hat, sondern ebenso für zahllose
Bildreproduktionsverfahren - vom Offsetdruck bis zum Fernsehbild.

 
Auf diese Rasterstruktur hat Astrid Eggert Fragmente von Vorhängen bzw. von einem Portrait
aufgebracht, in einer Art verwischten Technik, unter der das Raster hervorschimmert. Das
Portrait, das an traditionelle Bildnisse erinnert, ist über das Raster gemalt, obwohl seine
traditionelle Gestalt wie auch seine fragmentarische Erscheinung und die gewissermaßen
"verblassten" Gesichtszüge" eher an eine umgekehrte Abfolge denken lassen, etwa, dass unter
dem Farbraster eine ältere Malerei zum Vorschein gekommen ist.
 

Andererseits ist das Bildnis ähnlich unpräzise in der Formgebung wie die Formen der gerasterten
Blüten, eine Unschärfe, die vom Motiv wegführt und den malerischen Vortrag ins Spiel bringt,
die unterschiedlichen Arten des Farbauftrags auf der Leinwand. Es werden, so lässt sich
vielleicht sagen, Möglichkeiten demonstriert, in welcher Weise Malerei mit ihren Mitteln - und
das heißt vor allem natürlich - mit der Farbe Form konstituiert. Form, die zunächst nichts
anderes ist als ein innerbildliches Phänomen aus Farben und Flächen und die erst in der
Wahrnehmung des Betrachters durch vielfältigste Assoziationen wie durch einen Erfahrungs-
und Wissensschatz um die Kunst oder künstlerische Arbeitsweisen und vieles andere mehr sich
zu möglichen Inhalten verdichten.

 
Wenn man in diesem Zusammenhang die kleinformatigen Briefmarkenbilder und das
"Rosenbild", das tatsächlich u.a. aus Rosenblättern besteht, hinzuzieht, wird noch deutlicher,
dass Astrid Eggert für sich in ihren neuen Arbeiten die Möglichkeiten untersucht, in welchem
Verhältnis Material, Farbauftrag, Farbkontraste und Maße zur Form und zu möglichen Inhalten
stehen. Und sie greift dabei auch bewusst auf die Kunstgeschichte zurück. Sie konfrontiert
verschiedene malerische Verfahren miteinander in zweifellos stark verfremdeter Art und Weise,
nämlich verfremdet durch den eigenen Blick und das eigene persönliche Interesse. So wird etwa
die Gegenständlichkeit, wie sie seit dem ausgehenden Mittelalter in der Malerei gültig war hier -
ist es Hans Memling, der als Vorbild für das Portraitfragment diente, in der Art von Gerd Richter
verwischt, während die Farbraster nicht nur von den Stickbogenvorlagen angeregt sind, sondern
auch von der konkreten Malerei, genauer von den Arbeiten Ellsworth Kellys aus den frühen
50er Jahren.
 
Insofern ist der Titel dieses Bildes also durchaus programmatisch zu verstehen. Die Malerin gibt
hier jene Künstler an, deren Werk sie aus den unterschiedlichsten Gründen stark beschäftigt:
"Für Hans, für Ellsworth, für Gerd und für mich" heißt das Bild (1993), das u.a. die Frage nach
den Quellen künstlerischer Arbeit berührt. Für Astrid Eggert ist eine ihrer Quellen die Kunst,
deren historische Erfahrungen - neu untersucht und in andere Zusammenhänge gebracht und
verarbeitet - zu neuen Lösungen führen können. Die Entscheidung über die Brauchbarkeit, über
die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges erweist und begründet sich allein in der eigenen
künstlerischen Praxis. Hier ist die Künstlerin ganz auf sich gestellt, womit wir gleichsam zum
Ausgangspunkt meiner Ausführungen zurückkehren, zur grenzenlosen Freiheit der Kunst, zur
"Leitbildlosigkeit" , wie Adorno diesen Aspekt genannt hat, die für den Künstler/Künstlerin
freilich nur die Kehrseite einer absoluten Selbstdisziplin ist.
 
Prof. Dr. Raimund Happel, Kunstverein Braunschweig
20.3.1994 zur Ausstellung im Kubus Hannover